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„Damals war diese Villa hier noch herrschaftlich und pompös, so wie auch ich einst herrschaftlich und pompös war.
Okay, mein Volk hält mich offiziell immer noch für herrschaftlich und pompös. Aber wie wir alle wissen, ist es total normal in einer Diktatur, dass man seinem Volk vorschreibt, was es offiziell denkt. Heimlich denken diese kleinen Biester doch was sie wollen.
Davon muss ich jedenfalls ausgehen. Denn ich kenne sie, ich kenne sie sehr gut. Zwanghaft breiten sie ihr ganzes Seelenleben vor mir aus. Schreiben sich Tag für Tag um Kopf und Kragen. Wie eine Armee von Bots, die nicht anders können als weiße Buchstabenschlangen vor grauschwarzem Hintergrund zu produzieren. Und da brauche ich gar nicht groß zwischen den Zeilen zu suchen, um zu wissen, was wirklich Sache ist. Sie fürchten mich, ja, aber sie halten mich auch für abgehalftert und heruntergewirtschaftet. Denn genau das bin ich ja auch. Zugrunde gerichtet von Trollen und Internetmobs. Doch dazu später mehr.
Ich lasse sie gewähren in ihrem liederlichen Denken. Das gaukelt ihnen ein bisschen Gedankenfreiheit vor. Außerdem sind sie zu unfähig, um zu putschen.“
So ist besser. Dann will ich anfangen mit meiner Geschichte:
„Es ist noch nicht so lange her, da war die Restrealitaet noch so Untergrund, dass wir quasi Leichen waren. Jaja. Mindestens 3,5 Saisons lang war die RR the online place to be im Berliner Nachtleben. 2003 fing alles an. Damals gab es das hässliche Fratzenbuch noch nicht. Die alte Panoramabar und das liebe Ostgut hatten zugemacht und wir, die heutige Heimleitung, wollten in Kontakt bleiben mit den Menschen, mit denen wir so viele Stunden unseres Lebens verbracht hatten.
Soll ich euch mal ein lustiges Geheimnis erzählen?
Dann heuchelt wenigstens Interesse!
Jaha, mit so einer Wanderstockspitze kann man gefährliche Dinge tun.
Na also, geht doch.
Also: Der Heimleiter wollte das Forum zuerst www.friends-of-ostgut.de nennen! Köstlich, oder?
Darauf muss ich erst mal einen Eierlikör trinken.
Natürlich war ich es, die die Idee zur Restrealitaet hatte.
Okay, ich hatte mich bei dem Namen vom letzten Ostgutflyer inspirieren lassen. Aber sich inspirieren lassen ist ja in der freien Kunst und freundlichen Diktatur gang und gäbe.“
Muahaha, ich musste den beiden Sprüherlein versprechen, dass ich ihnen nicht weh tue. Dabei füge ich niemandem körperliche Schmerzen zu. Dafür habe ich ja mein Personal.
Ich setze höchstens meine erstaunlichen Psi-Kräfte ein. Aber auch nur, wenn ich gerade menstruiere. Oder wenn mir langweilig ist.
Noch ist mir nicht langweilig. Aber das müssen die zwei Sprühhasen ja nicht wissen. Wie putzig sie aussehen und mich mit ihren großen Augen anstarren!
„Der gemeine Verschieber musste euch fesseln und knebeln, weil ihr einfach weglaufen wolltet, ihr kleinen Frechdächse. … BEtäuben und mit Edding anmalen musste er euch auch. Das war wie ein Elfmeter ohne Tormann. … Wie? Ihr mögt keine Conchita-Wurst-Bärte? … Jetzt schaut doch nicht so. … Ihr könnt mir etwas Gesellschaft leisten und dafür erzähle ich euch meine Geschichte. Warum ich hier sitze, was mich zu Grunde gerichtet hat und was aus den anderen Heimleitern geworden ist. Los, ich erwarte ein bisschen mehr Begeisterung!“
Ich muss mal eben meinen Wanderstock holen, den mit der Metallspitze.
Im Keller höre ich ein Kettenrasseln. Der Verschieber geht seiner Arbeit nach, die nun mal im Verschieben besteht. Der arme Kerl. Manchmal schicke ich ihm per Rohrpost ein paar aufmunternde Worte hinunter, denn ich kenn mich aus mit Mitarbeiterführung.
Ach, hab ich schon erwähnt, dass sich die Restrealitaet im Keller unserer Heimleitungs-Villa befindet? Nein? Verrückt, oder. Da geht man nichtsahnend die Kellertreppe runter und zack, steht man vor den dunklen, passwortgeschützten Pforten der RR. Zum Glück ist das keinem der Vorbesitzer aufgefallen. Immerhin gibt es die Villa schon seit 1870.
Wo war ich stehengeblieben? Der Verschieber verschiebt in unserem Internetforum Stränge, die sich im falschen Unterforum befinden an die richtige Stelle. Und so toll bin ich auch nicht in Mitarbeiterführung. Muss ich ja auch nicht, schließlich bin ich Freundliche Diktatorin.
Trotzdem hätte ich dem feinen Herrn Schnipser niemals seinen Urlaubsantrag bewilligen sollen. Der Verschieber hat schließlich auch seit – Moment, ich muss mal eben im Admintool nachschauen – 11 Jahren keinen Urlaub gehabt.
Dass ich mich immer von dem Schnipser und seinem blöden Rumgeschnipse blenden lasse. Er kann einfach so toll schnipsen! Jetzt ist er schon seit zwei Monaten weg und ich muss selbst seine Arbeit machen und alte Stränge für die User hochschnipsen. Demütigend ist das. Wir haben in der RR aus Gründen keine Suchfunktion und wenn die Kundschaft mal einen alten Strang verlangt, wird dieser vom Schnipser von Hand hochgeschnipst.
Aber ich will dem Verschieber diese Last nicht auch noch aufbürden bzw. eigentlich wäre es das Erste was ich machen würde, ich befürchte jedoch, dass der Verschieber auf dumme Ideen kommen könnte, wenn ich ihm im Admintool die gleichen Rechte gebe wie dem Schnipser. Vielleicht will er dann das gleiche Gehalt wie der Schnipser, wo Schiebi doch seit 11 Jahren dieses unbezahlbar tolle und daher auch unbezahlte Praktikum bei uns macht.
Aber ich schweife ab. Gönne ich mir jetzt ein neues Ohrstäbchen oder überwache ich die neuesten Einträge in der Restrealitaet? Hey, ich könnt ja auch beides gleichzeitig machen!
Huch, was ist das für ein Knacken? Ich höre jemanden. Mal eben nachschauen, wer das ist.
Ahhhh, da haben sich wieder ein paar arme Sprayer auf unser Grundstück verirrt. Na, die werden sich wundern.
Nur mal eben meinen Morgenmantel öffnen und bämm, auf mit der Tür: ÜBERRASCHUNG!
Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich hier unserer monströsen Heimleiter-Villa am Zeuthener See und starre in den großen, kalten Kamin, in dem einst so lustig unsere Technomillionen prasselten. Ein bisschen so wie die Omma im „Landhaus der toten Seelen“, falls jemand außer mir diesen Film kennt und sich dadurch auch ein lebenslanges Trauma vor Chauffeuren und alten Frauen in Sesseln vor Kaminen zugezogen hat.
Es zieht. Der Wind pfeift durch den Schornstein und lässt die Klappen meines künstlichen Herzens mit den Fensterläden im Duett schlagen. Ich friere. Ich, die große und böse Rottenmaier sitze hier und friere!
Okay, ich bin zu faul, um aufzustehen und die Heizung anzustellen – was soll ich denn sonst noch alles machen. Also harre ich stattdessen aus. Harre, friere und warte. Ich werde nicht gehen. Mich aus dem Staub machen wie die anderen sechs Heimleiter. Mein Sitzfleisch ist so zäh wie ein Tofuschnitzel. Ich gehe erst, wenn die Restrealitaet mit mir untergeht.
Ja, Sie haben richtig gelesen. Unsere Regierungsform ist die Freundliche Diktatur. Ich kann diese Form der Herrschaftsform nur weiterempfehlen:
Alle können alles machen, bis der Punkt kommt, wo wir die Schnauze voll haben. Dann greifen wir völlig willkürlich und übertrieben durch. Wir nennen das die Helikopter-Methode, d.h. die meiste Zeit kreisen wir entspannt über dem Forum, nur manchmal landen wir und ein User wird von den Rotorblättern unseres Helis zerfetzt.
Ich schreibe hier übrigens leider nicht im Pluralis Majestatis. Bedauerlicherweise bin ich (noch) nicht die Alleinherrscherin über die RR.
NOCH herrsche ich mit sechs anderen Vögeln, genannt „Heimleitern“. Zusammen sind wir die „Heimleitung“. Ich weiß, das klingt nach Jugendherberge und Aufenthaltsraum, aber so werden wir nun mal von unserem Volk genannt. Manchmal nennen sie uns auch liebevoll „OHL“. Was leider nicht „Oh heilige Heimleitung“ bedeutet, sondern „Oberste Heeresleitung“. Das Volk ist dumm und stinkt, wusste schon Thomas Bernhard.
Die meisten der knapp 40.000 Bewohner der Restrealitaet – im Volksmund auch „Restrealitaeter“ oder „RRler“ genannt – leben in ihrem sogenannten real life in Berlin. Manche auch in Osnabrück, Ingelheim oder Los Angeles. Wöchentlich loggen sich ca. 4.000 arme Seelen ein, schreiben sich die Finger hornhautig oder schauen dabei, zu wie sich andere die Finger hornhautig schreiben.
Seit 2003 wurden so Millionen von Beiträgen, Strängen und eingetragenen Tanz-Veranstaltungen produziert. Es ist der Wahnsinn in grauschwarz.
WAS? Sie wissen nicht, was Stränge sind? Erzähl-Stränge? Wie sagen Sie denn zu einer hierarchische Abfolge von Online-Diskussionsbeiträgen? Etwa „Thread“? Das klingt so wie das Geräusch, bevor man sich übergeben muss. Oder sagen Sie knipsaugig „Fred“ oder „Schrank“? Oder sind Sie eher der lyrische Typ und bevorzugen Prokastrinationskaskade? Bei uns in der RR heißen die Dinger Strang. Muss man wissen.
In dieser Restrealitaet bin ich also das „Frollein Rottenmaier“, überspannte Gouvernante und Freundliche Diktatorin.
Die Restrealitaet (kurz: RR) ist ein anthrazitfarbener Ort im Internet. Um ihn betreten zu können, braucht man einen Bürgen.
*Antiquiertes Sirenengeheul*
KURZE GENDER-DURCHSAGE:
Ich bin eine faule Socke und außerdem habe ich sensible Sinnesorgane. Deswegen schreibe ich in der für mich vertrautesten Form und gendere im Folgenden nicht. Also kein:
UserIn
User_in
User*in
Userx
durch.
Weil anstrengend und Aua für meine Augen und Ohren. Das heißt aber nicht, dass ich die Genderei nicht grundsätzlich wichtig und obendrein äußerst unterhaltsam finde. Gerade durch die Restrealitaet konnte ich auf dem Gebiet sehr viel lernen. Dazu später mehr.
ENDE DER DURCHSAGE
*Einsatz Nocturne No.2 von Chopin*
„Küss die Hand, ich bin das Frollein Rottenmaier.“
„Frollein Rottenmaier, etwa die von Heidi?“
„Nein, die Rottenmaier aus der Restrealitaet.“